Montag, 14. Juni 2010

Die Schiffbrüchigen

(Auszüge aus einer angeschwemmten Flaschenpost)

[...] Und so kam es wie es kommen musste.
Nach sieben Tagen auf dieser Insel ohne Flora und Fauna sagte endlich einer, was alle über ihren nagenden Hunger schon seit längerem wussten:
“Machen wir uns nichts vor, meine Herren, wenn wir überleben wollen, müssen wir zu Rate gehen, wer von uns sterben soll, um den Restlichen die Ressourcen zu sichern. Ich bitte um geeignete Vorschläge.“
Die Nominierungen der verschiedenen Anwartschaften auf die Bereitstellung der materiellen Grundlage eines Grillfestes führten zu nichts, weil alle Vorgeschlagenen bescheiden diese Ehre ausschlugen und hinter den anderen zurücktraten oder schlicht Protest einlegten, weil sie den tieferen Sinn dieser humanitären Maßnahmen nicht einsahen.

Schließlich wurde der Antrag gestellt, die Kandidatenliste endlich zu schließen, und zur schriftlichen Wahl zu schreiten.
Unter Berufung auf die Würde des Hauses erging jedoch erbitterter Protest gegen dieses Verfahren. Ein wirklich demokratisches Procedere erfordere mindestens die Wahl eines Vorsitzenden und eines Beisitzers.

Die erhobenen Einwände gegen die Formalitäten und Gepflogenheiten einer Geschäftsordnung gipfelten wegen Dringlichkeit in einer Resolution unverzüglicher Auswahl, die aber daran scheiterte, dass die mindestens einen Tag aufliegen müsste, und dadurch gerade jene angestrebte Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens verhindern würde.

Dem Antrag auf Schluss der Debatte wurde stattgegeben, und ein Wahlgremium aufgestellt, bestehend aus dem Vorsitzenden, dem Schriftführer, drei Komiteemitgliedern und dem Beisitzer.
Nach einer erstaunlich zügigen internen Beratung verkündete der Wahlausschuss die drei Kandidaten fürs ressourcensichernde kommende Dinner und das Frühstück.

Ein (der Redaktion namentlich bekannter) Versammlungsteilnehmer erhob sich und stellte den Antrag, den soweit ja ganz ordnungsgemäßen Vorschlag dahingehend abzuändern, den doch sehr zähen Kandidaten 2 gegen einen von erklecklicherem Nährwert auszutauschen. Auch im Falle von Kandidat 3 – bei aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen – müsse man darauf bestehen, dass, was hier verlangt sei, nämlich Masse – Substanz, Gewicht, Nahrhaftigkeit, eben Masse nur in einem sehr begrenzten Umfange vorhanden sei.

Diesem Ergänzungsvorschlag wird aufs allerentschiedenste widersprochen. Bei einem ernsthaft durchgeführten Vergleich der Kandidaten ergebe sich auch ohne Hinzuziehung eines Gutachters der gewünschte Kalorienüberschuss aus der körperlichen Länge der Erkorenen, die das Auge täusche. Es ergebe sich so eine Präferenz für eine eindeutige Verwerfung des Ergänzungsantrags. (Anhaltender Beifall)

Die sich anschließende, ziemlich heiße Debatte über einen eventuell einzurichtenden Gutachterausschuss endete im Antrag auf Abstimmung.
Abgelehnt.

Dagegen wurde dem ersten Antrag stattgegeben. Nunmehr folgte die engere Wahl.
Fünf Abstimmungen verliefen ergebnislos. Beim sechsten Wahlgang wurde Herr Harris gewählt, und zwar einstimmig, aber mit Ausnahme seiner eigenen Stimme. Infolgedessen wurde der Antrag gestellt, seine Wahl durch allgemeine Akklamation zu bestätigen, was wiederum erfolglos war, weil er auch jetzt gegen sich selbst stimmte [...]

Und so weiter in der demokratischen Methode verantwor-tungsvoller Gesetzgebung, die immer seliger denn nehmen ist, von den Beteiligten im Laufe der nächsten Tage aber als sehr zufriedenstellend eingeschätzt wurde. Harris beispielsweise hätte gar nicht besser und bekömmlicher zubereitet sein können. Der etwas ältere Kandidat habe zwar schon einen gewissen Hautgout gehabt, aber was den inneren Nährwert und die Zartheit des Fleisches angeht, musste man ihm doch den Vorzug vor Harris geben.
[...]

… Ich schreibe es mit entkräfteter und zitternder Hand: unser ordnungsgemäßes, demokratisch einwandfreies Verfahren der Ressourcensicherung bewahrte uns nicht vor dem endlichen Aufbrauchen der Ressourcen.

Soll das heißen, dass die Rechtmäßigkeit der Herrschaftsmethode nur dazu dient, Hindernisse und Grenzen auf dem Weg in den endgültigen Ruin niederzulegen?

(Mit Dank für Idee und Formulierungshilfen an Mark Twains „Kannibalismus in der Eisenbahn“)

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