Donnerstag, 8. April 2010

Kalkutta, Darjeeling, Sikkim

März 2010

Manchmal wünschte ich, es gefiele mir in Deutschland besser, damit ich nicht soviel reisen müsste.

18. März 2010

Mein Freund,
wenn du mich jetzt durch Kalkutta begleitest, dann brauchst du keine Angst vor dieser Pestbeule der Städte zu haben.
Die Gesundheitsbehörde, die dich schon in der Immigrationshalle empfängt, versichert dir, dass das Ausfüllen eines Formulars mit deinen persönlichen Daten gut gegen die grassierende Schweinegrippe sei.
Das schafft Vertrauen.
Die hinter einer Sichtblende hervorlugenden Krankenbetten auch. Ganz wie zu Hause wird man auch hier fürsorglich von den Staatsorganen belagert.

- Wenn du Geld wechselst, zähle doch ungescheut nach, und lasse dir den versehentlich fehlenden Differenzbetrag aushändigen. Niemand wird beleidigt sein. Man erwartet das von dir.
- Wenn sich da drüben Menschenähnliches und Dohlenvögel auf dem Abfallhaufen raufen, dann geht es wie hierzulande doch auch bloß um den Anteil an Verwertbarem.
Der einzige Unterschied: hier in Täuschland geht es eleganter und geruchsfrei zu.
- Deine Angst vor der Tuberkulose ist ganz unbegründet. Die roten Auswürfe auf den Straßen stammen vom Kauen der Betelnüsse und dem davon herrührenden Rot des Sputums.
- Die Bündel Fetzen da auf dem Bürgersteig sind keine Leichen. Die gehören zu den 1,3 Millionen, die am Rande des Bürgersteigs ihren festen Wohnsitz haben. Das Transportgewerbe schläft übrigens auf der Ladefläche seiner Fahrrad-Rikschas oder seinen Karren.
- Nein, nein, die Verschleierung deines Blicks bedeutet nichts Böses. Es ist nur eine der zahlreichen Wolken aus dem Verbrennen von Plastikmüll, mit dem sich die an der frischen Luft Wohnenden Platz und Wärme verschaffen. Um diese brennenden Pollutionsherde würde ich aber doch einen größeren Bogen schlagen.
- „Don´t cross the road in the middle of the traffic.”
Also darauf würde ich schon hören.
Wenn es denn möglich wäre. Da Kalkutta aus einer einzigen Lawine von traffic besteht, wirst du täglich mehrfach Weltrekorde im Sprinten schlagen müssen. Oder besser, schmuggle dich im Schutze erfahrender Eingeborenen mäandernd durch die Blechlawine.
- Wenn dich das geradezu orgiastisch Aufbrandende von menschlichem Gewusel und der abwesende Blick der Vorübergleitenden ängstigt: das sind bloß die letzten Zuckungen einer Sterbenden, die sich ein weiteres Mal in die Welt wirft und erneut gebiert.

Morgens in Kalkutta.
Die von siegreich überstandenen Zweikämpfen gezeichneten Straßenbahnen ziehen gleichmütig ihre Bahn. Ihre rostzerfressenen Aufbauten hält der letzte Ölfarben-Anstrich zusammen.

Falls diese Menschen, die sich an den öffentlichen Wasserstellen rudelweise der morgendlichen Toilette widmen, irgendwelche Konzepte, Selbst- und Weltentwürfe wälzen sollten, wären sie mit dem erfolgreichen Überleben des heutigen Tages voll ausgelastet.

Solche Menschen haben genau so viele Götter, wie an Regungen durch sie zuckt: der Hinduismus kennt an die 330 000 davon. Das Überleben strukturiert diese Seelen genau so mühelos wie die Getriebenheit des westlichen Lebens den damit umgehenden Lebenskünstler, oder die Versuchungen der Spiritualität im Alter, you name it...

19. März
Mein Freund,
ich will dich nicht mit Dingen langweilen, die dir nun wirklich schnurz sein können. Aber über die gebuchte Sightseeingtour durch Kalkuttas Highlights gibt es doch das eine oder andere Interessante zu vermelden.
So sprach etwa der Guide an seinem Busmikrophon dauernd von einem „Golgatha“.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich herausfand, dass er Kalkutta meinte.
Aber er hat ja so was von recht: dies ist wirklich eine „Schädelstätte“, auf der sehr viel mehr als ein Christus und zwei Schächer gekreuzigt werden, und zwar täglich, spätestens seit den Tagen des Kolonialismus, als die Engländer hier herumregierten, damit Indien ein Selbstbedienungsladen ohne Kasse bleibe.

Nach der quälenden Durchquerung der Slums des Stadtteils Howrah der erste kulturelle Höhepunkt: die architektonische und auch sonst vergleichsweise paradiesische Anlage, von der aus die Ramakrishna - Bewegung ihren Ausgangspunkt nahm.
Hier ein link zu dem Stilsynkretismus des Tempels, in dem sich Elemente aller Weltreligionen wiederfinden. Vielleicht im Einschmelzen aller Differenzen allzu kitschig, aber ich war trotzdem dankbar, dass die Chemiefabriken auf der anderen Seite des Ganges-Armes Hooghly waren.

http://www.sriramakrishna.org/belurmath.php

- Ramakrishna war übrigens ein Priester des Kalitempels auf der anderen Seite des Flussarms

http://en.wikipedia.org/wiki/File:Kolkatatemple.jpg

-In St. Pauls finde ich die - mich damals schon geärgert habende -
Coventry Litany of Reconciliation
wieder, die an Versöhnungsplätzen wie diesen jeden Freitag gebetet wird.
Hier der wenig erfreuliche Text der nutzlosen Selbstbezichtigung von Leuten, die das wirklich ernst meinen:
The hatred which divides nation from nation, race from race, class from class,
Father forgive.
The covetous desires of men and nations to possess what is not their own,
Father forgive.
The greed which exploits the labors of men, and lays waste the earth,
Father forgive.
Our envy of the welfare and happiness of others,
Father forgive.
Our indifference to the plight of the homeless and the refugee,
Father forgive.
The lust which uses for ignoble ends the bodies of men and women,
Father forgive.
The pride which leads us to trust in ourselves, and not in God,
Father forgive.

Das heißt ja wohl: die wollen genau so weitermachen.

Diese Herangehensweise an die aufgezählten, und vom Dogma der Sündernatur bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten Probleme der nicht ernst genommenen Klassengesellschaft garantiert mit Sicherheit eines: bis ans Ende aller Freitage wird das inbrünstig von dergleichen Selbst - Bespeiern genüsslich zu beten sein.

Der christliche Idealismus führt hier schön seine Scheuklappen vor, die nun wirklich nur Pferden wirklich gut bekommen.
Ansonsten trennt ja wohl nicht der Hass die Nationen, Klassen und Rassen, sondern die nützliche Erfindung unserer Herren, uns in Klassen, Rassen und Nationen auseinander zu dividieren, um uns gegeneinander aufhetzen zu können, schafft den funktionalen Hass für Kriege und Rechtfertigungsideologien. Divide et impera! (Teile und herrsche) zählt schliesslich zur Basisausrüstung jeglichen Hherrschaftswissens.
Der Gipfel der Verbohrtheit ist - nach der Erklärung aller Misshelligkeiten dieser Welt aus der Schwäche der Sünderlein, die wir allzumal seien, - die Unverschämtheit, dass jeder, der sich in der Welt auskennt, ein vom Hochmut Geschwollener sein solle, den schon sein Desinteresse an Gott richte.

Als sehr lehrreich empfand ich auch den Besuch des Queen Victoria Memorials, eines imperialistischen Prunk- und Prachtbaus, der das Selbstbewusstsein des Kolonialismus sehr gut wiedergibt.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/73/Victoria_Memorial_Kolkata_panorama.jpg

Diese Mischung aus allerlei imperialen Gesten, deren Obszönität durch die Linienführung eines Zuckerbäckers gesoftet wird, enthält unter anderem Skulpturenmaterial, das Bände spricht:
- Robert Clive, Begründer der britischen Kolonialmacht in Indien schreitet mit dicken Beinen und wegweisender Geste in die Geschichtsbücher, deren toxische Inhalte noch heute zum Lehrstoff der höheren Schulen gehören. Merke: an den höheren der Schulen lernt man das Höhere. Und das ist immer ein ideelles Unterwerfungsverhältnis. Und sonst nichts Gescheites.

Ein einziger Major James Rennell wird vom Bildhauer mit gesenktem Kopf und herabfallenden Mundwinkeln erfasst: wenigstens einer, der bedauert, was er sein Leben lang im Dienst am Höheren verbrochen hat.
Gleich daneben eine spitznäsige Kampfhenne: eine Queen Alexandra, die uns – Gott sei Dank- schon 1925 von sich selbst erlöst hat.
Das Pack der willfährigen Nutznießer des Imperialismus ist typologisch gebündelt in einem Ölgemälde der Lady Hastings. Der Maler hat zu Recht die Kostbarkeit der luxuriösen Gardarobe dieses Symbols hirnloser Dienstmädchensehnsüchte hervorgehoben.

Nicht zu vergessen als Nutznießer die „Babu – Culture“!
Jene Schicht der vom Imperialismus geschaffenen „new rich“, die Schicht der intermediaries, der compradores, der Zwischenträger, auf welche die bis auf den heutigen Tag verblödeten, aber zahlungskräftigen Herren angewiesen waren und sind, wenn sie denn mit den Leuten überhaupt ins Geschäft kommen wollten, unterscheidet sich in ihrer grenzenlosen Geschmacklosigkeit nicht von der ihrer kolonialen Herren: der Affe weiß es schließlich nicht besser, sondern genau so gut.

Dieser Tag hat mir richtig gut getan.
Die Denklmäler, die sich die Herren dieser Welt errichten, sind lauter Denk- und Schandzettel, die sie sich auch noch eigenhändig um den Hals gehängt haben.

Sozialstaat

Wenn die großen, schweren Schlachtschiffe zum Schlachten ausfahren, zieht immer das Lazarettschiff hinterher. Für die Wiederherstellung von noch verwertbarem Material.

Unbeeindruckt von dieser Bestimmung dessen, was Sozialstaat ist, kommt es den An-Politisierten vor, als nehme die "soziale Kälte" zu.

Teilnahme und Identifikation

Dauernd soll man sich mit etwas identifizieren und sein Heil in der Teilnahme erblicken.
Spielst du aber tatsächlich mal das, womit du dich total zu identifizieren hast, nämlich die Staatsgewalt, und tust, was eigentlich ihres Amtes wäre, schon überschreitest du deine Kompetenzen und fällst wegen dieser Identifikation unters Verdikt des Identitätsdiebstahls, also in die Psychiatrie, wenn du Glück hast.
Wenn die Abziehbilder (auf der Rechten) sich wie das Original aufführen, bekommt das Original Identitätsprobleme. Und weil es die Macht hat, räumt es den Repräsentations-Usurpator aus jedem praktischen Vollzug seiner Einbildungen.
Beispiel: "Jack the Ripper", der seiner Staatsgewalt helfend unter die ohnmächtigen Arme griff, und unter den viel zu vielen hungernden Huren von London gängige Ordnungsvorstellungen ins Werk setzte, kann von Glück sagen, dass er beim löblichen, aber illegitimen Werke nicht erwischt wurde.

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