Sonntag, 7. Februar 2010

Reisen und Flanieren

Bevor ich mich besinnungslos in die nächste Unternehmung stürze, sei etwas über das Reisen vermeint.

Es gibt keine Rechtfertigung dafür.

Die Unverantwortlichkeit schlechthin.

Ich kann noch nicht mal für mich reklamieren, dass ich im zarten Alter des Studiosus noch irgendwie auf der Suche sei.
Übrigens und am Rande: es kommt bei dessen Suche immer nur eins raus: Zu Hause ist alles besser.
Gehört er allerdings mehr zur kaufmännisch veranlagten Sorte, wird er als überzeugter Sesshafter die Aufmerksamkeit der Tourismusströme zumindest versuchsweise umleiten.
Ganz anders die Flaneure, über die Tucholsky gut Bescheid wusste:
Flaneure
Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber ....
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
- Kurt Tucholsky, 1930
-
Wir lesen uns also nach Thailand erst Anfang März wieder.

Diese wundervolle Suggestivität der letzten Sätze

- Jemand warf einen toten Hund ihm nach in die Schlucht. (Malcolm Lowry, Unter dem Vulkan)

- Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (Goethe, Die Leiden des jungen Werther)

- Aber an K. s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. (Kafka, Der Prozess)

- Sie herrscht, und ich diene, und wenn ich meinen ganzen Mut sammle und Widerstand leiste, gewinnt sie immer, im Namen des Gehorsams, der Vernunft und der Angst. (Anna Mitgutsch, Die Züchtigung)

- Weh dem, der Symbole sieht! (Samuel Beckett, Watt)

- Er war sich bewusst, dass er – in all der Wirrnis und würdelosen Hanswursterei dieses Lebens, das wir durcheilen -, dass er die Satzungen seines Vertrages erfüllen musste; und er erfüllte sie. Diese Satzungen, von denen im innersten Herzen jeder Mensch weiß. Wie ich von meinen weiß. Wie alle wissen. Denn das ist die inneliegende Wahrheit – dass wir alle wissen, Gott, dass wir wissen, wir wissen, wir wissen. (Saul Bellow, Mr. Sammlers Planet)

- Im Augenblick aber stehe ich, unwissend und verständnislos, gleichsam auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, mein Körper strebt Richtung Tod, mein Kopf dreht sich zum Leben um, mein Fuß holt unschlüssig zu einem Schritt aus. Einen schritt wohin? Egal, denn wer den Schritt tut, bin schon nicht mehr ich, das ist ein anderer... (Imre Kertész, Ich – ein anderer)

- Ich erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges. (Fritz Zorn, Mars)
-
Man sollte überhaupt nur Bücher lesen, mit deren letztem Satz man einverstanden ist. Die Unsitte, Bücher zu kaufen, durch deren erste Sätze man sich hat hinreißen lassen, sieht sich nämlich schwer bestraft, wenn die erbrachte Leseleistung im Verkleckern eines nichtssagenden Abschlusses endet.-

Mystifikation

bedient sich
1.der Phantasterei: Der Überredende entstellt die Realität, in dem er sie zum erkenntnisähnlichen Mythos macht.
2. der Verstellung: Der Redner ironisiert, er wird zu einem mit Sinnangeboten spielender Verführer.
3. der Heuchelei: er verbirgt sich seine eigenen Fragen und Zweifel. Der Überredete ist Beweis dafür, dass er richtig liegt. So entsteht Gemeinde.
4. der Verführung: Der Redner kann seine Darstellung nicht beendigen, wenn nicht etwas im Zuhörer ihm entgegenkommt.
5. der Verachtung: Der Redner entstellt während seiner Rede nicht nur die Realität, er vertauscht auch den Beziehungsaspekt unter den Adressaten.

Hierher gehören:
- alle Sekten samt jener kirchlichen Vereine, die Sektenbeauftragte aus sich hervorbringen;
- die Demagogen des Parteiensystems;
- Philosophen;
- 100 % der schöngeistigen Literatur.
Man sieht: nicht alle Mystifikation ist schädlich.

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