Mittwoch, 10. Juni 2009

Apuanische Alpen. Berge am Meer.

Motto:
Ich bin eine jener Spelunken, die zu frequentieren meine Mutter nicht müde wurde, mir auszureden.


Montag, 25. Mai
Ich, der farblose Erzähler, bin heute mit Christian, den zu akkompagnieren mir nichts anderes übrig bleibt, für 30 Euro von Frankfurt/Hahn nach Pisa geflogen.
Bei Ankunft 40 Grad Celsius.
Erst auf dem abendlichen Spaziergang auf den Befestigungen von Lucca wird ein Abendwindchen die nässende Stirn kühlen. Von hier aus im Norden sieht man schon die Kalkzacken der Apuanischen den Himmel aufschlitzen.

Immer wenn ich in Lucca bin, fällt mir wieder ein, warum ich der Zivilisation, aus der ich komme, gram bin. Sie ist laut und stinkt, und vor allem ist sie hässlich.
Nichts von all dem im historischen Kern von Lucca, der noch nichts davon gehört hat, dass alle Schönheit aus unserem Leben verschwunden sei.

Dienstag, 26. Mai
Bahnfahrt nach Castelnuovo di Garfagnana.
Busfahrt durch eine dieser waldigen Schluchten der Garfagnana nach Tre Fiumi.
Marsch durch einen dieser wunderbaren, endlosen Buchenwälder (Garfagnana heißt „großer Wald“) zum Rifugio „Il Robbio“, das ich vorgebucht hatte – wie alle anderen Hütten auch – weil erst ab 15. Juni die Hütten auch wochentags geöffnet sind.
Gescheiterte Nächtigung.
Dabei wäre sie sehr reizvoll gewesen. Kein Auto, keine Straße und keine flackernde Neonreklame wurde an diesem begnadeten Fleck Erde jemals gesehen. Nur ein hinkender, sehr alter und arg schnaufender Hund verbellte mich und jedes Ansinnen, hier irgendwo unterzukriechen.

Mittwoch, 27. Mai
Hier das Gekritzel eines nachdenklichen Anonymus, das ich auf der Rückseite einer Bank im Bus nach Tre Fiumi genoß:
Sperare in un sogno vuol dire
costruire alla mente la illusione,
una favola che non diventerà mai realtà…
sperare è inutile
sperare costa molto
sperare fa male


Ja, so ist das wohl. Vor allem tut es weh.
Zur Ergänzung dieses ruppigen Standpunkts hier meine interpretierende Übersetzung eines Worts von Pasolini:
Das langsame Vergessen des Vorscheins (eines nie Aufgegangenen) ist hilfreicher als die Erinnerung an seine Helligkeit.
Besser es reißt das Seil, das mich an eine tote und immer wieder neue Erde bindet.“


Neuer Anlauf zur Hütte also.
Diesmal klappt es.
Dafür mehrere gewaltige Unwetter, die ich in meinem Poncho in nicht ganz dichten Unterständen und Felsüberhängen überstehe.
Die schleichen sich von hinten an, diese Gewitter, aber man hört den Sturm dann doch kommen wie einen Zug, der über dich hinwegbrausen wird. Ein gewaltiges Spektakel mit mächtigem sensurround-sound.
Jeder Peitschenknall der Blitze ermuntert den schon ermattenden Regen zu noch orgiastischeren Ergüssen. Das Elementare eines Gebirgsgewitters hat ja so was Ordinäres.
Die Gewitter wechseln übrigens einander ab. Eines allein könnte die ernst gemeinte Vernichtung harmloser Wanderer gar nicht leisten.

Außer mir nur Regenwürmer und Salamander unterwegs.

Donnerstag, 28. Mai
La Pania della Croce. Ja, das hat man nicht alle Tage.
Im Westen das tyrrhenische Meer, der nördliche Nahhorizont das aufgerissene Maul der Apuanischen Alpen, der Osten von den Apenninen begrenzt, und im Süden das Verebben der Aufgipfelung, auf der du stehst, in zerklüfteten Grasbergen.

Da beschleicht unsren Schamanen ein wildes Lied:

Sei allem Abschied voraus.
Wirklichkeit ist nicht Realität,
Energieüberschuss nicht der Stausee.

Es ist falsch, dem Wildbach den Entwurf seiner selbst vorzuhalten,
wenn er sich in Verwirklichung stürzt.
Nicht seine Schuld,
wenn die Herren der Wässer
seine Abdankung erzwingen.


Freitag, 29. Mai
Aufstieg zum Rifugio del Freo.
Mittags dann wegloser, aber teilweise wenigstens schwach markierter Aufstieg zum Monte Corchio.
Oben sinniert ein lapidarer Spruch über das Kreuz als Mahnmal des Todes, das uns das Leben lieben macht.
VOR UND NACH UNS ALLES UND NICHTS.
LEBEND IN DER UNSICHERHEIT UNZÄHLIGER MÖGLICHKEITEN.
Ach, diese Potentialitäten-Krämer! Deren anrüchigen Häuflein (als Hinterlassenschaften in Stein) begegnet man hier öfter.
Wenn alles möglich ist, dann ist nichts wirklich, und die Brutalität, mit der wir miteinander umspringen, ist nur ein anderes Wort für Schicksal, in das die harte Fresse des Faschisten ebenso verliebt ist wie der Philosoph der Kontingenz.
Die gröbste Wiederlegung dieser auf Machiavelli zurückgehenden Geistestradition: alles soll möglich sein, aber dass die Leute ein anständiges Leben führen dürfen sollen, das soll natürlich nicht möglich sein!

Nachmittags zum Monte Forato. Molto divertente, dieses Juwel von einem Panoramaweg.

Samstag, 30. Mai
Rauf zum Rifugio Enrico Rossi
Nachmittags auf die Pania Secca.
Mauersegler umdüsen und sausen im Zickzack diese weglosen Karren –Kalk-Rippen. Sehr urtümliche Steigerei. Wie vor der Erfindung der Wege durch den Alpenverein.
An der Hütte zitiert eine Tafel den in Italien sehr bekannten Spätromantiker Giovanni Pascoli mit seiner morgendlichen Anrufung der Pania. Jede Morgenröte spricht er mit ihr und „gebraucht die zärtlichsten Worte“...Ein klarer Fall von Petraphilie, von deren Existenz ich bis dato noch nichts gehört hatte.

Sie sieht aber auch wirklich verdammt gut aus...

Sonntag, 31. Mai
Abstieg nach Fornovolasco (1100 Höhenmeter) in kräftigem Dauerregen.
Die letzte Stunde auf dem Sentiero 134 ist das reinste Abenteuertrekking durch einen Verhau aus umgestürzten Bäumen, vermurten Wegen und eingefallenem Terrassierungsmaterial.
Und immer die möglichst klein gehaltene Erwartung, dass das womöglich noch schlimmer kommen wird.
- Hast du Angst?
-Ja, ich fühle mich großartig!
Wie mir zum Hohn hört es nach 4 Stunden am Zielort schlagartig auf zu regnen.

Montag, 1. Juni
Marsch zur Eremo di Calomini, weil der 8 Uhr-Bus einfach nicht kam. Der hatte einen guten Grund: es war Pfingstmontag.
In einer Stützmauer an der Straße nach Vergemoli hinauf das Flachrelief eines Frauenkopfs im Profil. Andächtiges Verharren vor dieser unvermuteten Schönheitsgabe eines Anonymus, die unseren Christian unvermittelt, sozusagen mit unbekleidet, nacktem Gesicht anspringt.
Den Kritikus, den Aufklärer und den Angstlüstler sehe ich feixen, und der Schamane zupft ihn am Ärmel.
Irgendwann taucht Christian aus seiner Versenkung auf: „Schönheit macht uns leichter atmen.“
Im Agriturismo der Eremiterei (noch harrt hier ein einziger Franziskaner aus) Kastanienbier und Dinkelsuppe, Kinderbuch und weiße Laken.
Aaaahhh!
Die Pfaffen ertappen uns also „bei der Pflege des Leibs“ und ziehen scharfe Nasenfalten.
Wir aber setzen geruhsam unser Duschen fort, und verzichten großzügig aufs Stinken.

Dienstag, 2. Juni
Der Plan war der: von der Eremiterei runter ins Flusstal und drüben hoch nach Verni. Anschließend weiter rauf nach Trassilico. Dort feiner Rundblick auf die erledigten Pensen der letzten Tage vom Monte Forato über die Pania usw... und feine Abschiedsmahlzeit vor der Busfahrt nach Gallicano.
Davon konnte nur wenig ins Werk gesetzt worden. Die einzige Restaurationsmöglichkeit in Trassilico befand sich in einem geschlossenen Rifugio und der angepeilte Bus erschien schon wieder mal nicht. Diesmaliger Grund: Nationalfeiertag der Italiener. Am 2. Juni 1946 fiel den Italienern ein, dass alles besser als Mussolini sei, und so installierten sie eine Art parlamentarischer Republik. Was auch immer das sei, was da gefeiert wird.

Unser Kritikaster wusste natürlich wieder was über Leute, die es mit der Planung einer Reise nicht so genau nehmen, und so was überhaupt besser den Fachleuten überlassen sollten.

Mittwoch, 3. Juni.
Auf der Zugfahrt von Fornaci die Barga zum Flughafen Pisa forderte eine mittelalterliche Dame unseren Christian in gerade noch verständlichem Englisch auf, doch bitte die Abteiltüre geöffnet zu lassen. Es sei so schlechte Luft hier. Und sie wedelte zur Absicherung des Gemeinten mit der Hand vor ihrer Nase.
Worauf Christian, der Unnachahmliche, mit todernstem Gesicht und im Tone der Verkündigung von Offenbarungen ihr mitteilte: „Sono i miei stivali che puzzano, signora.“ („Was hier so stinkt, sind meine Stiefel, Madame.“)
Muss man ihn nicht lieben, unseren alten Aufklärer! Immer zum Verteilen hilfreicher Wahrheiten aufgelegt.
Aber auch hier zeigte sich wieder: mit der Wahrheit kann niemand etwas anfangen. Jedenfalls deute ich den Anflug von Röte im Gesicht der Belehrten nicht als Regung der Dankbarkeit.

Erzittert ihr Mainzer. Ab sofort werdet ihr ein weiteres Mal die Gebrüder Klotz ertragen müssen!

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